Maßstab der Vergebung
17. September 2023
Unsere heutige erste Lesung aus dem Alten Testament klingt, als wäre sie von einem christlichen Autor geschrieben, und doch wurde sie etwa zwei Jahrhunderte vor Christi Geburt verfasst. Der jüdische Autor, den die Tradition Jesus Sirach nennt, dessen Name eigentlich aber Shimon ben Yeshua ben Eliezer ben Sira ist, provoziert uns mit genau demselben Maßstab für Vergebung, den auch Jesus uns im Vaterunser lehrt. Mit Jesus Christus zusammen beten wir zu unserem himmlischen Vater: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern". Im Weisheitsbuch von Jesus Sirach lesen wir: „Vergib deinem Nächsten das Unrecht, dann werden dir, wenn du bittest, deine Sünden vergeben!“; und er stellt eine unbequeme Frage: „Ein Wesen aus Fleisch verharrt im Groll. Wer wird seine Sünden vergeben?"
Eine ähnliche Fragestellung finden wir auch im heutigen Evangelium. In dem Gleichnis fragt der Herr den Knecht, dem er gerade erst seine Schulden erlassen hatte: „Hättest nicht auch du mit deinem Mitknecht Erbarmen haben müssen, so wie ich mit dir Erbarmen hatte?“ Diese Frage ist wie ein Echo auf die Worte der ersten Lesung: „Mit einem Menschen gleich ihm hat er kein Erbarmen, aber wegen seiner Sünden bittet er um Verzeihung?“ Sowohl Jesus Sirach als auch Jesus Christus widersprechen dem Mainstream, nämlich der weit verbreiteten Auffassung, es sei nur unser gutes Recht, eine Kränkung, eine Verletzung oder ein Unrecht zu verübeln; dass es daher eine Grenze für unser Verzeihen und unsere Versöhnungsbereitschaft gäbe, über die hinaus wir nicht so hohe Ansprüche an uns selbst stellen müssten. Unser Herr Jesus Christus stellt genau diese Grenze in Frage, wenn er sagt: „nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal“, solle man vergeben. Petrus hatte ihn gefragt, ob es reicht, wenn man einem Sünder siebenmal vergibt. Jesu Antwort ist eindeutig: Man solle gar nicht erst auf die Idee kommen, aufzurechnen, wie oft man dem anderen vergeben müsse. Das Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht will deutlich machen, warum es diese Grenze nicht geben darf: Umsonst haben wir empfangen, umsonst sollen wir geben. Genauso wie mir vergeben wird, soll ich vergeben. Wenn wir das tun, entdecken wir, was Barmherzigkeit bedeutet.
Und was geschieht, wenn wir nicht verzeihen? Im Gleichnis heißt es: „In seinem Zorn übergab ihn der Herr den Peinigern.“ Und dann ist da dieser erschütternde Schlusssatz: „Ebenso wird mein himmlischer Vater euch behandeln, wenn nicht jeder seinem Bruder von Herzen vergibt.“ Wir brauchen nicht nur unermessliche Barmherzigkeit, sondern auch unermessliche Gnade. Nichts anderes als die maßlose Liebe Christi kann uns zu einer solchen Vergebung von Herzen bewegen. Allerdings wird diese aufrüttelnde Aufforderung zur unbegrenzten Vergebung schon mal gerne missverstanden: „Schwamm drüber!“; „Halb so wild!“; „Es tut ja keinem weh!“ sagen wir dann gerne. Doch christliche Vergebung erwächst nicht aus der Gleichgültigkeit gegenüber dem, was falsch ist. Sie entspringt vielmehr der Dankbarkeit und der Liebe: der manchmal fassungslosen Dankbarkeit gegenüber unserem himmlischen Vater, der unserer Gebrochenheit und unserer Schuld mit pochendem Herzen und offenen Armen entgegeneilt; und der geduldigen, scheinbar törichten Liebe gegenüber dem anderen, der uns Unrecht tut. Johannes Klimakos sagt es im im 7. Jahrhundert so: „Wenn du dich aufmachst, um vor den Herrn zu treten, sei dein Gewand gänzlich aus dem Stoff des Nichtnachtragens gewoben, andernfalls wird dir das Gebet nichts nutzen.“
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Pater Josef und alle Brüder in Tabgha und in Jerusalem wünschen Euch einen gesegneten Sonntag!